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Regulierung und Vertragsrecht - Ein Widerspruch?
Vertragsrecht ist durch das Prinzip stat pro ratione voluntas geprägt. Die Privatautonomie und die Vertragsfreiheit als grundlegende Wertentscheidungen unserer Privatrechtsgesellschaft erlauben dem Einzelnen, den subjektiven Willen vor die objektive Vernunft und auch vor jegliche von aussen herangetragene Wertvorstellung zu setzen. Doch schon im Vorfeld der Kodifikationen des 19. Jahrhundert stand dieses freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis auf dem Prüfstand. Diskutiert wurde etwa, inwieweit das Privatrecht (auch) eine ‘soziale Aufgabe’ verfolgen sollte bzw. privater Disposition Grenzen zu setzen sind. In den Gesetzen reflektierte sich diese Diskussion durch vereinzelte Schranken der vertraglichen Selbstbestimmung, wie z.B. im Falle einer Sittenwidrigkeit, Verletzung der öffentlichen Ordnung oder der Übervorteilung.
Die Erkenntnis, dass formelle Vertragsfreiheit keine Gewähr für Vertragsgerechtigkeit leisten kann, prägte sodann die vertragsrechtliche Regelsetzung im europäischen Umfeld des 20. Jahrhunderts und führte zur Ausweitung der gesetzlichen Schranken. Das Ziel dieser Gesetzgebung war es hauptsächlich, durch Differenzierung der rechtlichen Rahmenbedingungen – sei es durch zwingende oder teilzwingende Normen, Formvorschriften oder Auflockerung des pacta sunt servanda-Prinzips – einen gerechteren Interessenausgleich zwischen den gegenläufigen Parteiinteressen zu fördern und somit dem vertragsimmanenten Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit (Austausch zwischen redlichen und vernünftigen Vertragsparteien) zu entsprechen. Allgemeinwohlziele wurden hingegen mit vertragsrechtlicher Gesetzgebung – wenigstens vordergründig – nicht verfolgt.
Ab den 1980er Jahren wurden Gesetzgeber durch Phänomene wie die Privatisierung, Liberalisierung des Welthandels, Globalisierung und Digitalisierung vor sehr unterschiedliche Herausforderungen gestellt. Die Integration der Märkte führte zunehmend zur Verlagerung der Regelsetzungsbefugnis auf internationale bzw. supranationale Institutionen und Regulierungsbehörden. Dies führte zur vermehrten Rezeption neuer Rechtskonzepte und Regelungsansätze, was auch durch diverse Rechtsvereinheitlichungsprojekte vorangetrieben wurde. Das dominierende Ziel wurde der funktionierende globale Markt. Das bislang relativ wertneutrale Privatrecht als Infrastruktur zur vertraglichen Selbstverwirklichung wurde immer mehr durch das Gemeinwohlziel der Bekämpfung von Marktversagen bzw. Marktregulierung anhand des Effizienzgrundsatzes geprägt.
Diese Akzentverschiebung wurde auch durch Studien im Bereich der Politikwissenschaften, Soziologie, Psychologie sowie Wirtschaftswissenschaften zur Funktion und Wirkung von Rechtsnormen und den damit verbundenen Einsichten zur Steuerungsmöglichkeiten des menschlichen Verhaltens mitgetragen. Die Privatrechtsdogmatik, die sich klassischerweise auf den normativen Sinngehalt vorgegebenen Rechts fokussiert, sich als hermeneutische Disziplin versteht und Begriffs-, System- und Prinzipienforschung als ihre Grundlage erachtet, wurde von tatsachen- und folgenorientierten wissenschaftlichen Ansätzen überlagert. Die Privatrechtswissenschaft wurde somit immer mehr (auch) eine Realwissenschaft, die unter Bezugnahme auf Erkenntnisse anderer Wissenschaften Rechtstatsachenforschung betreibt, unterschiedliche Regelungsmethoden bzw. Regelungsinhalte und deren Folgen analysiert und gestützt darauf Änderungsvorschläge anbietet. In den Vordergrund trat die Verhaltenssteuerungsfunktion des Privatrechts mitsamt ihren privatrechtlichen Folgen. Die traditionelle Grenze zum öffentlichen Recht, dem die Verhaltenssteuerung durch unterschiedliche Mechanismen wie Steuern, Subventionen, Verbote und Bussen zugewiesen war, wurde damit aufgeweicht.
Auch das Vertragsrecht konnte sich diesen Entwicklungen nicht verschliessen.
Zur Hauptfunktion des Interessenausgleichs zwischen den Parteien und der Verwirklichung des Ideals der ausgleichenden bzw. kommutativen Gerechtigkeit trat die Steuerungsfunktion des Vertragsrechts hinzu, die teilweise auch exogene Ziele wie das Gemeinwohl und das Ideal der verteilenden Gerechtigkeit verfolgt. Das Vertragsrecht wurde gleichzeitig Instrument zur Umsetzung von demokratisch legitimierten Zielen wie optimale Ressourcennutzung, Nachhaltigkeit, Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes und des Diskriminierungsverbotes, Schutz des Schwächeren, Überschuldungsprävention, Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum, Verhinderung von unlauteren Geschäftspraktiken, u.ä.